SCENARIOdigital - LESEZEICHEN. Ausgabe 3 der Kolumne von Jochen Brunow
„Lesezeichen“ so hieß eine der in jeder Ausgabe wiederkehrenden Rubriken in dem zwischen 2007 und 2016 in Buchform erschienenen Film- und Drehbuch-Almanach Scenario. VDD-Gründungs und-Ehrenmitglied Jochen Brunow hat die Rubrik in Form einer Kolumne im VDD Journal wieder aufgenommen. Wir veröffentlichen hier die dritte Ausgabe.
LESEZEICHEN 3
von Jochen Brunow
Dieses Lesezeichen erscheint in digitalisierter Form. Das ist gewollt und auch okay so. Wir leben in einer „hybriden Leseumgebung“, habe ich gerade gelernt. Wir lesen auch längere Texte eben nicht mehr nur in Form von Büchern, sondern auch auf den verschiedensten Bildschirmen und mobilen Screens. Macht es nun aber einen Unterschied, ob wir ein Buch analog lesen oder auf einem Computer oder einem e-reader? Für mich persönlich schon.
Wenn ich ein Drehbuch analysieren und besprechen soll, mich gründlich damit befassen muss, dann drucke ich es immer noch aus. Ich tue das mit einem gewissen Ausmaß an schlechtem Gewissen und denke durchaus an die Bäume in den Wäldern Skandinaviens, die der Papierproduktion zum Opfer fallen. Aber für eine bestimmte Form der Konzentration und Durchdringung des Gelesenen brauche ich das gedruckte Wort. Nun haben mich die Forschungsergebnisse von 130 Leseforschern aus ganz Europa mit ihrer Starvanger Erklärung zur Zukunft des Lesens in Zeiten der hybriden Leseumgebung in dieser Haltung bestätigt.
„Leser neigen beim Lesen digitaler Texte eher zu übersteigertem Vertrauen in ihre Verständlichkeiten als beim Lesen gedruckter Texte, vor allem wenn sie unter Druck stehen, was wiederum zum Überfliegen und zu geringerer Konzentration auf den Inhalt des Gelesenen führt.“ So heißt es in einem der Abschnitte ihrer Erklärung.
Wie oft haben wir gehört, dass von Zeitnot geplagte Produzenten und Redakteure unsere Drehbücher auf dem Flug zur Besprechung im ICE oder im Flugzeug auf dem Laptop oder Tablett gelesen haben? Haben wir endlich einen Grund gefunden, warum wir uns so oft von ihnen völlig missverstanden fühlten?
Die Lesezeichen haben sich nie nur auf Buchtexte beschränken wollen. Und so stehen am Anfang dieses Lesezeichens die Links zu drei digitalen Texten über die Starvanger Erklärung der europäischen Leseforscher.
https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/laengere-texte-auf-papier-besser-verstaendlich-1435/
Dunkle Haare, ein Mann mit einer etwas düsteren Ausstrahlung, die schweren buschigen Augenbrauen gestutzt, das ist Alfred Hayes wie man dem Foto auf der Innenseite des Umschlags von „Alles für ein bisschen Ruhm“ sehen kann. Berühmtheit erlangte Alfred Hayes für sein Gedicht über den Hobo, Musiker und ermordeten Helden der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung „Joe Hill“. Das Gedicht wurde vertont, von unzähligen Liedermachern auf Konzerten und Demonstrationen gesungen, unvergessen die Version von Joan Baez in Woodstock.
Alfred Hayes war Reporter, Romancier, Drehbuchautor, Brite, geboren 1911 in London. Studierte später in New York am City College, blieb nach dem Einsatz im zweiten Weltkrieg in Europa, wo er in Rom für die Regisseure des italienischen Neorealismus Rosselini und de Sicca arbeitete. Später in L.A. schrieb er Anfang der 50er Jahre unter anderem die Drehbücher zu „The Lusty Men“ für Nicholas Ray und „Clash by Night“ für Fritz Lang. In dieser Zeit schrieb er auch an dem Roman „Alles für ein bisschen Ruhm“. Die bittere, mitleidlose Abrechnung mit der Filmwelt Hollywoods erschien vor zwei Jahren auf Deutsch im Verlag Nagel&Kimche. Das ist ein verdienstvoller Schweizer Kleinverlag der seit 2018 im Hause Hanser untergekommen ist, aber weiter eigenständig publiziert (u. a. William S. Burroughs und Andrea Camilleri mit seinem wunderbaren sizilianischen Commissario Montalban).
Der Ich-Erzähler des Romans ist Drehbuchschreiber wie der Autor selbst. Er lebt mit Frau und Kind glücklich an der Ostküste in New York und kommt nur einige Wochen im Jahr an die Westküste nach L.A., um als Script-Lieferant gutes Geld, „viel gutes Geld“ wie er betont, zu verdienen. Er fühlt sich der dortigen Branche nicht wirklich zugehörig, denkt aber trotzdem, er schaue nicht auf sie herab. Auf einer Feier in einem Haus in Malibu wird er auf der Terrasse zufällig Zeuge wie eins der üblichen Partygirls am Strand mit einem Martini in der Hand in den Ozean geht. Eine Welle ergreift sie und der Autor rettet sie vor dem Ertrinken.
Auch wenn er die schöne, junge Frau am Anfang nicht wirklich attraktiv findet, verbindet sie diese Aktion und er beginnt halbherzig eine Beziehung mit ihr. Sie träumt von einer Karriere als Filmstar, scheitert aber immer wieder beim Vorsprechen. Der Autor wird immer tiefer in ihr Leben hineingezogen und als seine Ehefrau aus New York ihr Kommen avisiert, spitzt sich die negative Energie der Beziehung dramatisch zu. Der Autor wird mit der Erkenntnis konfrontiert, er ist auch nicht besser als all die anderen verlogenen Leute in Hollywood. Die kurzen, manchmal nur eine knappe Seite umfassenden Kapitel des 140 seitigen Buches lesen sich schnell und süffig weg. Und doch ziehen sie den Leser - gerade wenn er auch selbst in dem beschriebenen Milieu tätig ist - in eine komplexe und tiefgreifende Lebensabrechnung.
„Ich hatte gedacht, es spiele keine Rolle, wo ich arbeitete oder womit ich mein Geld verdiente, sehr viel Geld. Und so hatte es geendet. Ich hatte Kummer und Einsamkeit und Selbstzweifel vermeiden wollen. Ich hatte etwas haben wollen, was nicht Aufrichtigkeit verlangte, sondern nur vorgeführte Könnerschaft, gespielte Aufrichtigkeit.“
„My face for the world to see“ heißt die amerikanische Originalfassung von „Alles für ein bisschen Ruhm“.
Auf jeder Premierenfeier, jedem Filmempfang, die sie besucht, sticht sie mit ihrer großen schmalen Gestalt, gekleidet in extravagante Modelle, gekrönt mit langen blonden Locken sofort aus der Menge heraus. Heike Melba-Fendel kennt man in der Branche als die äußerst umtriebige, attraktive Chefin der Veranstaltungs-, PR- und Künstleragentur Barbarella mit Sitz in Köln und Berlin. Nach Studienzeiten an Schauspielschulen in New York war sie eine Zeitlang als Journalistin unterwegs, ehe sie ihre Agentur gründete.
Sie schreibt immer noch Essays, Stories, Artikel, mischt sich mit Schwung in filmpolitische Debatten ein. Eine ihrer zahlreichen Initiativen war um die Jahrhundertwende herum eine Reihe von Lesungen von Drehbüchern, deren Produktion von Sendern und Förderern abgelehnt worden waren. Unter dem Titel NEUES AUS DEM GIFTSCHRANK verfolgten plötzlich in allen Städten, die sich als Produktionsstandorte für Film verstanden, jeden Monat 200 bis 300 Zuhörer pro Veranstaltung in ausverkauften Sälen Lesungen von unverfilmten Drehbüchern durch mehrere Schauspieler. Kontroverse Stoffe fanden so eine Öffentlichkeit und es gab lebhafte Diskussionen über die Gründe für die Nichtrealisierung dieser Bücher. Auch mein Buch „Ausgeliefert“ über den Fall des türkischen Ayslbewerbers Kemal Altun, der während seines Prozesses aus dem Gerichtssaal in den Freitod sprang, kam damals in Berlin in Clärchens Ballhaus zur Aufführung.
Heike Melba-Fendel schreibt auch Romane. Ihr zweiter erschien schon 2017 im Verlag Blumenbar, der zum Aufbauverlag gehört. Als ich damals in einer Rezension las, „Zehn Tage im Februar“ handele vom Leben einer Filmkritikerin während der Berlinale, war natürlich meine Neugier geweckt, aber ich habe es dann doch irgendwie versäumt, das Buch sofort zu lesen. Nun bekam ich es von einem Freund geschenkt.
Die Handlung beginnt damit, dass der Lebensgefährte der Filmkritikerin für die kommenden zehn Tage des Festivals aus der gemeinsamen Wohnung auszieht. Aber dieser nur als „der Mann“ bezeichnete Partner bleibt blass, kann in seiner Abwesenheit natürlich auch kaum literarische Kontur gewinnen außer in seiner Beurteilung durch die Protagonistin. Die Liebesgeschichte erscheint mir daher ein wenig wie aufgesetzt. Es geht eher um die inneren Gefühlsstürme, die sich in der hin und her gerissenen Heldin abspielen. Da werden Sentenzen abgefeuert wie: „Ich lasse mich nicht verlassen.“ „Das Alter muss man abschaffen, bevor man anfängt, unter ihm zu leiden.“ Jede Form von oberflächlicher Sicherheit und Kontinuität geht der Figur gegen den Strich, auf sie kann sie sich nicht verlassen. „Anders als offensichtlichem Irrsinn oder eindeutiger Schwäche wohnt den guten Eigenschaften etwas Unberechenbares und Vorläufiges inne.“
Die Autorin sieht die Branche, in der sie selbst arbeitet und ihr Geld verdient, in diesem Roman kritisch und ihre eigene Rolle durchaus mit Selbstironie. Die Berlinale und besonders ein nie mit dem Namen genannter Festivaldirektor, der wiederum immer wieder die Namen seiner Gäste vergisst, bekommen ihr Fett weg. Die zehn Tage Empfänge, Small-Talk, Blitzlichtgewitter, Promi-Zirkus, Pressekonferenzen und Jury Dinner, volle Kinosäle, obskure oder bekannte Filme und nächtliche Abstürze an Hotelbars sind bissig, leicht und locker beschrieben.
Unterbrochen werden sie von Rückblenden zu anderen Festivals wie Cannes, Edinburgh oder Hof, die das alter ego der Autorin in ihren früheren Jahren besuchte. Auch wenn das Buch Roman als Gattungsbezeichnung trägt, ist Vieles dieser Schilderungen nicht nur autobiographisch, sondern beinahe dokumentarisch, gewinnt aber gerade daraus eine gewisse Würze. Die auf den Festivals gezeigten Filme werden allerdings nicht wirklich besprochen, sondern eher „aufgerufen“ und es ist gut, wenn der Leser sie kennt und auf eigene Seherfahrungen zurückgreifen kann.
Anders ist das nur mit den Filmen von Jane Campion, denn mit dieser Regisseurin und ihrem Werk verbindet die Kritikerin eine besondere Beziehung. Seit sie die Regisseurin in der Festival-Kantine in Edinburgh zufällig kennenlernt, einer ersten Begegnung mit ihren Kurzfilmen und einem langen Spaziergang, auf dem sie Gedanken zu Leben und Liebe austauschen, sieht die Kritikerin in der Regisseurin eine Schwester im Geiste und glaubt an eine spezielle Verbindung mit Campion. Seltsamerweise versucht sie auf professionellen Wegen bei offiziellen Interviewterminen eine Beziehung aufzubauen, was naturgemäß scheitern muss. Von Campions Filmen erwartet sie eine besondere Darstellung der Frauen und auch da wird sie immer mal wieder enttäuscht, vor allem von der Serie „Top of the Lake“.
Die Begegnungen mit anderen Prominenten verkommen gelegentlich zum reinen name dropping, so dass der Leser sich die Leidenschaft für den Film, den die Autorin ganz offensichtlich hegt und mit ihrer Protagonistin teilt, oft dazu denken muss. Es ist Lebenshilfe und Entscheidungshilfe in Liebesdingen, die die Kritikerin von Filmen erwartet, und diese werden ihr im Endeffekt nicht gewährt. In ihrer Verwirrung zieht sie am Ende aus der gemeinsamen Wohnung aus, ehe „der Mann“ nach dem Ende der Berlinale zurückkehren kann.
Wer Drehbücher schreiben will, sollte Drehbücher lesen. Am besten gute Drehbücher natürlich. Bücher die anspruchsvoll und erfolgreich zugleich sind. Es gibt dazu neben den inzwischen zahlreichen Internetangeboten eine neue Gelegenheit. Einen schweren Brocken. Über tausend Seiten mit 13 Drehbüchern, wobei eins nicht verfilmt wurde. Michael Haneke „Die Drehbücher“ heißt der Wälzer. Ein strenges asketisches Buch, so wie das klare Schwarz-Weiß-Foto des Meisters mit dem silbernen Bart auf dem Umschlag-Titel. Innen keine Bilder oder Stills aus den Filmen. Kein erklärendes Vor- oder Nachwort. Nur die Credits zu den einzelnen Filmen, nichts aber über ihre Uraufführung, Festivalteilnahmen und Preisvergaben.
Schlicht und ergreifend wie die Filme von Haneke, von denen ich nicht alle im gleichen Masse schätze. Ich greife mir „Liebe“ als erste Lektüre heraus und werde sofort in den Rhythmus des Drehbuchs hineingezogen. Soweit ich den Film erinnere, handelt es sich bei dem Text wirklich um das Drehbuch und nicht ein nach dem fertigen Film hergestelltes Protokoll. Was auch nicht zu der asketischen Strenge des Buches passen würde. Auch wenn der dicke Wälzer jetzt erstmal ins Bücherbord wandert, werde ich ihn sicher noch oft zur Hand nehmen.
Aus dem Bücherregal:
Alfred Hayes „Alles für ein bisschen Ruhm“ , Roman Nagel & Kimche, Zürich 2016
Michael Haneke „Die Drehbücher“, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018
Heike Melba-Fendel „Zehn Tage im Februar“, Blumenbar, Berlin 2017
Im Netz:
https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/laengere-texte-auf-papier-besser-verstaendlich-1435/
Die Kolumne LESEZEICHEN erscheint regelmäßig im VDD Journal.
Jochen Brunow ist Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD.